Liebe Familie, Freunde, Bekannte, Interessierte und Unterstützer,
unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht. Ich bin mittlerweile schon vier Monate hier in Georgien. Jeder Tag hier steckt voller Eindrücke und Abwechslung, sodass bei mir bisher keine Langeweile aufgekommen ist. Daher habe ich bis jetzt auch nicht die Zeit gefunden, euch daran teilhaben zu lassen. Das soll sich mit diesem Bericht hier ändern.
Seit dem 25. August 2021 leiste ich meinen Dienst als Freiwilliger in der Temi Community, im Dorf Gremi in Georgien. Temi ist eine lebendige Gemeinschaft, die 1989 aus einer kleinen Initiative entstanden und seitdem ständig gewachsen ist. Heute leben und arbeiten hier etwa 70 Menschen, aus unterschiedlichsten Verhältnissen und mit verschiedenen Fähigkeiten.
Bei der Weinernte im September.
Zu Temi gehören neben ein paar Gärten, einem Gewächshaus, einigen Hühnern und Schweinen auch eine Holz- und Metallwerkstatt. Außerdem wird auch biologische Landwirtschaft betrieben. So bauen wir beispielsweise auf mehreren Feldern eigenes Getreide an, aus welchem wir dann in unserem Backhaus eigenes Brot für die Community backen. Besonders erwähnenswert ist aber, dass Temi seinen eigenen Wein herstellt. Hierzu besitzt Temi einige Weinfelder und einen Marani (Weinkeller), in dem biologisch und auf traditionelle Weise der Quevri-Wein hergestellt wird.
Gemeinsam mit meinen fünf Mitfreiwilligen darf ich nun für ein Jahr hier leben und mich einbringen. Meine Arbeitsbereiche sind so vielseitig wie die Community selbst und jeder Tag ist in seinem Ablauf anders. Uns Freiwilligen wird hier viel Freiheit gelassen, wie wir den Tagesablauf gestalten. Daher sprechen wir uns täglich ab, was ansteht und wer welche Arbeiten übernehmen will. Es gibt hier immer etwas zu tun und ich bin gut eingespannt. Am wichtigsten ist es hier, dass die Menschen mit Assistenzbedarf, die sonst keine eigenen Aufgaben in Temi haben, nicht zu kurz kommen. Gemeinsam gehen wir spazieren, spielen, malen, basteln, weben, hören Musik, tanzen, schaukeln in einer Hängematte oder machen andere Aktivitäten. Bei Arbeiten im Garten oder im Gewächshaus versuchen wir auch immer, die Bewohner mit einzubeziehen. Zudem hat sich jeder von uns Freiwilligen zwei bis drei Leute herausgesucht, die wir als Bezugspersonen versuchen einzeln zu fördern.
Ortseingang von Gremi Die Gremi-Kirche Wegweiser mit unserem Hausberg im Hintergrund Ein Teil des Temi-Geländes Das Stein-Haus, in dem ich wohne Meine Mitfreiwilligen und ich Sonnenuntergang in Temi Basteln mit einer Bewohnerin
In die Weinherstellung sind wir Freiwilligen auch mit eingebunden. Angefangen bei der Weinernte, über das Pressen der Trauben, das Umrühren der Maische im Quevri, Auspressen des Tresters bis hin zum Putzen eines leeren Quevris. Ein Quevri ist ein amphorenähnliches Tongefäß mit einem Fassungsvermögen von bis zu 3200 Litern. Auch das Abfüllen und Etikettieren des Weins übernehmen wir.
Der Wein wird überwiegend hier in Temi zum Verkauf angeboten, da wir in unserem Marani auch Gäste empfangen. Hier kann eine Weindegustation oder ein Essen bestellt werden. Wir bieten auch Fahrräder zum Ausleihen an und haben einen kleinen Shop mit Temis eigenen Produkten. Dort gibt es beispielsweise Wein, Säfte, Honig und Handgemachtes von den Bewohnern.
Wenn Gäste kommen, ist es unter anderem auch meine Aufgabe, diese zu betreuen und über Temi und die Weinherstellung zu erzählen und Weindegustationen durchzuführen. Seit ich hier bin sind noch nicht viele Touristen gekommen, was natürlich an der Jahreszeit liegt, aber ich habe trotzdem schon ganz Verschiedenes erlebt. So hat sich ein deutsches Ehepaar angemeldet, das neben einem Essen hier noch eine Fahrradtour zur historischen Klosteranlage Nekresi hier in der Nähe machen wollte. Mit einem anderen Freiwilligen habe ich die beiden dann auf der ca. 30 km langen Fahrt mit dem Rad begleitet und da ich das Kloster selbst schon besucht und etwas darüber gelesen hatte, konnte ich sie herumführen. Auch bin ich mit zuständig, den Alltag in der Gemeinschaft zu dokumentieren, um Temi auf Social Media zu präsentieren. Ihr findet uns als „TEMI Community“ auf Facebook und Instagram.
Mein Ansprechpartner hier für meine Arbeit und alles andere ist ein leitender Mitarbeiter, mit dem ich sehr gut auskomme und mit dem man sich auch auf Deutsch verständigen kann. Außerdem habe ich noch eine deutsche Ansprechpartnerin, die für uns Freiwillige zuständig ist. Sie ist allerdings immer nur ein halbes Jahr hier in Temi und wird erst im Sommer wieder kommen. Auch sie hat immer ein offenes Ohr, wenn es Probleme geben sollte.
Mit meinen Mitfreiwilligen komme ich prima zurecht und wir sind sehr gut als Team zusammengewachsen. Die meisten Bewohner hier sind mir auch alle gleich herzlich begegnet und ich fühle mich wohl, auch wenn es die Sprache immer noch schwierig macht sich zu verständigen. Die allermeisten sprechen hier nur Georgisch, und ich tue mich mit dem Lernen etwas schwer, aber freue mich Tag für Tag, wenn ich mehr verstehe und meine Wörter oder einfachen Sätze verstanden werden. Mir fällt es oft nicht so leicht, auf andere zuzugehen, da ich nicht der Kontaktfreudigste bin. Aber ich sehe es hier auch als Chance, daran zu wachsen und bin mir sicher, dass es mir leichter fallen wird, wenn mein Wortschatz größer ist.
Das Leben hier in der Community ist schön und erfüllend, aber ich empfinde es auch vereinnahmend, sodass es mir nicht leicht fällt, mich wirklich zurückzuziehen, wenn ich einmal Ruhe brauche. Im Haus, in dem ich wohne, teile ich ein Zimmer mit zwei anderen Freiwilligen. Da hier auch einige Kinder wohnen, ist immer etwas los und oft ist es auch dementsprechend laut. Mit meinem sozialen Umfeld hier bin ich aber ganz zufrieden, da ich hier ständig mit Bewohnern in Kontakt komme und die Begegnungen mich oft auch sehr glücklich machen.
Ihr fragt euch bestimmt, wie ein Tag bei mir abläuft und ich will versuchen, euch einen kleinen Überblick zu verschaffen. Der Tagesablauf hier ist immer unterschiedlich, je nachdem was für Aufgaben anstehen und wie das Wetter ist. Bis zum Frühstück um 9:30 helfen immer zwei weibliche Freiwillige beim Duschen der Bewohnerinnen mit Assistenzbedarf. Die Aufgabe für einen männlichen Freiwilligen ist es, sich bis zum Frühstück um einen sehr aktiven siebenjährigen Jungen zu kümmern. Das heißt, mit ihm Zähne zu putzen und ihn zu beschäftigen. Dafür haben wir zum Beispiel als Vorbereitung auf seine Schulzeit jeden Morgen einen Spaziergang zur Schule gemacht. Mittlerweile wurde der Junge eingeschult und unter der Woche begleiten wir ihn nur noch bis er sich auf den Weg in die Schule macht.
Vor dem Frühstück stehen auch Arbeiten im Garten und Gewächshaus an. Das aber vor allem im Sommer, wenn es sehr warm ist und man draußen tagsüber nicht arbeiten kann. Nach dem Frühstück haben wir Freiwilligen eine Besprechung, was am Vormittag alles gemacht werden soll. Ein paar machen meistens eine Gruppenstunde mit Aktivitäten, für die beeinträchtigteren Leute. Es wird aber natürlich auch mit Einzelnen, vor allem unseren Bezugsbetreuten, etwas unternommen oder gespielt. Zu den Aufgaben der Freiwilligen gehört auch das Brotbacken, Schweine füttern und die Ställe ausmisten.
Um 13:30 gibt es dann Mittagessen und danach eine Mittagspause. Um 15 Uhr besprechen wir, was am restlichen Tag unternommen werden soll. Nachmittags findet meistens ein Spaziergang für die Leute statt, die sonst nicht viel Bewegung haben und nicht rauskommen. Oft werden auch mit den Kindern oder anderen Bewohnern Spiele gespielt, gemalt, gelernt oder Arbeiten gemacht, die noch anstehen.
Gegen 18:30 ist das Abendessen, nach dem im Sommer oft noch im Garten oder Gewächshaus gegossen werden muss. Später am Abend singen wir zum Tagesausklang mit den Bewohnern zusammen mehrstimmig georgische Lieder und zum Schluss immer noch ein deutsches Lied. Das deutsche Lied sucht sich jeder Freiwilligen-Jahrgang selbst aus. Wir haben uns für „Kein schöner Land“ entschieden und die letzte Strophe in „Nun Temi eine gute Nacht“ umgedichtet. Oft machen wir nach dem Singen mit einer kleinen Gruppe von Leuten noch einen Abschlusskreis bei Kerzenschein, bei dem jeder schöne Momente von seinem Tag teilen kann.
Die Rkaziteli-Traube Die Saperavi-Traube Eines von Temis Weinfeldern Bei der Ernte Sammlung der Trauben Aus den Eimern in den Anhänger… …und zurück in die Eimer Pressen der Trauben Abfüllen in einen Quevri Umrühren eines Quevris Beim Quevri umrühren Auspressen der Maische Presswein Chacha – Der Trester, der weiter zu Schnaps gebrannt wird. Putzen eines Quevris Alleine im dunklen Quevri Beim Schaukeln Entspannen in der Mittagspause Gartenarbeit Gruppenfoto auf der Baustelle
Zu besonderen Anlässen, wie Feier- oder Geburtstagen, gibt es in Temi eine Supra, das ist ein Festessen mit georgischen Spezialitäten. Oft werden davor noch Spiele gespielt oder Tschurtschchelas, eine Süßigkeit aus mit Traubendicksaft überzogenen aufgefädelten Hasel- oder Walnüssen, hergestellt.
Hin und wieder machen wir auch Ausflüge mit den Bewohnern. Ein beliebtes Ziel ist dabei zum Beispiel ein nahgelegener See, an dem man schön spazieren oder sich in den öffentlichen Anlagen sportlich betätigen kann.
Bei einem Ausflug machten wir eine Wanderung entlang eines Flussbetts zu einem großen Wasserfall im Lagodekhi-Nationalpark. Lagodekhi ist eine Stadt die sehr nah an der Grenze zu Aserbaidschan liegt. Dort ist sonntags auch immer ein großer Bazar, auf dem man alles bekommt und zu dem wir Freiwillige für einige Besorgungen einmal mit hin durften.
Ein Highlight für die Kinder und die fitteren Bewohner sind natürlich auch größere mehrtägige Ausfahrten. So durfte ich gleich in meinen ersten Tagen mit einigen Leuten mit nach Chewsuretien, einer Region im äußersten Nordosten Georgiens. Wir waren zu neunt für fünf Tage in einem alten Bulli unterwegs über den Bärenkreuzpass bis nach Schatili, machten kleine Wanderungen, zelteten in der Natur und saßen abends mit Spielen und Gesang am Lagerfeuer. Die wunderschöne Berglandschaft und der klare Sternenhimmel, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe, haben sich fest in meine Erinnerungen eingebrannt.
Im Oktober machten wir eine Radtour in das Dorf Argogkhi, wo wir für ein paar Tage bei einer ehemaligen Mitarbeiterin von Temi und ihrer Tochter unterkamen, bei der Kürbisernte halfen und mit dem Rad die Gegend erkundeten.
Ende Oktober habe ich mich leider trotz Impfung mit Corona angesteckt und war zwei Wochen von der Gemeinschaft isoliert. Das ist mir nicht leicht gefallen und hat mich auch emotional niedergeschlagen. Ich habe mir in dieser Zeit viele Gedanken über meine Schwächen und Stärken gemacht und kann sagen, dass ich jetzt, wo ich wieder am Zusammenleben teilnehme, mit mir selbst mehr im Reinen bin. Wenn es etwas gibt, das mich belastet, versuche ich das anzusprechen, damit es keine unguten Gefühle geben muss. Was mir immer wieder schwer fällt, ist der Umgang mancher Menschen untereinander, der mir oft zu respektlos ist. Die Sprachbarriere macht es mir hier allerdings schwer zu vermitteln, was ich für richtig halte. Ich habe mir vorgenommen, mir täglich die Zeit zu nehmen, weiter Georgisch zu lernen. Dies ist in der Anfangszeit leider zu kurz gekommen, aber ich freue mich darauf mehr reden und verstehen zu können.
Abschließend kann ich sagen, dass ich mich hier in Temi sehr wohl fühle und es mir an nichts fehlt.
Tschurtschchelas herstellen Lagodekhi-Wasserfall Ausflug zum Ilias-See Der Ilias-See Auf dem Bärenkreuzpass Wanderung in den Bergen Etwas benebelt Traumhafte Aussichten Blick auf Schatili An einer Ruine in Schatili Auf der Radtour Bei der Kürbisernte
Ich hoffe ihr hattet alle schöne und erholsame Weihnachtsfeiertage. Hier in Georgien ist Weihnachten erst 14. Tage später, also am 7. Januar. Das Fest, was hier aber größer gefeiert wird, ist Neujahr (achali tseli) und ich bin schon sehr gespannt, was mich da erwartet.
Euch wünsche ich „gilotsavt achal tsels“ – ein frohes neues Jahr!
Ganz liebe Grüße aus Georgien!
Euer Piusi
(ფიუსი – wie ich hier genannt werde)
Weihnachtsbeleuchtung in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens